Hugentobler, Manuela

Graduate School

Zukunftsvorstellungen in den inter- und transnationalen Frauenbewegungen 1970-2000

Projektleitung

Lena Joos, M.A.

Abstract

Zukunft ist eine fundamentale Komponente des gesellschaftlichen Lebens und Denkens im 20. und 21. Jahrhundert: Zukunft verleiht Handlungen einen Horizont, spendet Orientierung und Hoffnung, ermöglicht Planung, fördert Erwartungen oder Ängste. Zukunftsvorstellungen tragen daher dazu bei, die Wirklichkeit zu formen. Allerdings wurden in der bisherigen Forschung hauptsächlich historische Zukunftsvorstellungen von Männern (weiss und cis) untersucht, während Frauen, Queers und andere marginalisierte Personen ausgeklammert bleiben. Diesem Desiderat möchte die Dissertation entgegenwirken, in dem Zukunftsvorstellungen in den inter- und transnationalen Frauenbewegungen von 1970 bis 2000 untersucht werden. Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts sind mit der Absicht auf einen radikalen Umbau der Gesellschaft aufgetreten und verfügen dementsprechend über explizite oder implizite Vorstellungen von Zukunft(en). In Form von utopischen wie dystopischen Visionen wird kritisiert, politisiert, inspiriert und zu politischen und sozialen Veränderungen aufgerüttelt. Die Formulierung der Zukunftsentwürfe von Akteur*innen einer sozialen Bewegung stellen folglich soziale und politische Handlungen dar, die es gilt als historische Phänomene zu untersuchen. Das Ziel ist Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Frauen und feminisierte Personen über die Zukunft, ihre zukünftige gesellschaftliche Position und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern dachten. Konkret werden Zukunftsvorstellungen unter anderem auf Inhalte, Zeitebenen, Raumbezüge, Gesellschaftskonzeptionen und Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen hin untersucht. Es wird dabei nicht nur auf Inhalte der Zukunftsvorstellungen geachtet, sondern auch auf die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Prozesse, die hinter der Ausformulierung von Zukunftsvorstellungen stehen.

Dabei wird von drei Grundprämissen ausgegangen. Erstens, dass es gewinnbringend ist, Zukunftsvorstellungen als historische Phänomene zu untersuchen, weil sie das Denken und Handeln von historischen Akteur*innen beeinflussten, selbst dann wenn sie nicht eintraten. Zweitens, dass Zukunftsvorstellungen gesellschaftlich bedingt sind und auf Austausch und Aushandlungsprozessen basieren. Dementsprechend ist Zukunft umkämpft und Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinterlassen ihre Spuren in den Zukunftsvorstellungen. Drittens, dass Zukunftsvorstellungen einen elementaren Bestandteil des Selbstverständnisses, der Forderungen und der Lösungsansätze sozialer Bewegungen ausmachen. Bisher wurden sie von der Geschichtswissenschaft aber nicht als Analysetool für soziale Bewegungen verwendet. Ohne den Blick auf Zukunftsvorstellungen lassen sich Handlungen und Entscheidungen der Akteur*innen sowie daraus folgende politische Ereignisse und Entwicklungen aber nur unzulässig erklären. Daher versteht die Dissertation Zukunftsvorstellungen als einen Zugang, der neue Erkenntnisse über die Ideenwelt, Gedanken und Perspektiven der untersuchten Akteur*innen und die Ausrichtung ihrer Gruppierungen zu Tage fördert.

Das Projekt arbeitet mit einer breiten Definition von Frauenbewegungen, da Frauenbewegungen und Feminismen vielfältige Ursprünge, Entstehungskontexte, Mobilisierungsgründe, Ziele und Themen haben und je nach Kontext und Zeit unterschiedliche Bedeutungen einnehmen. Frauenbewegungen werden zum einen über ihre Zusammensetzung sowie zum anderen über ihre Zielsetzung definiert. Zu Ersterem gehören soziale Bewegungen, die sich aus Frauen, Queers und feminisierten Personen zusammensetzen, und dabei für eine Vielzahl von Themen – wie beispielsweise Frieden, Antirassismus oder soziale Gerechtigkeit – kämpfen. Zu letzterem gehören soziale Bewegungen, die thematisch zum Ziel haben Geschlechterverhältnisse zu verändern, dabei aber nicht zwingend nur aus Frauen und Queers bestehen. Unter dem Begriff Bewegungen werden sowohl organisierte Formen mit breiter Basis wie auch alltägliche Mikropraxen zusammengefasst, um den räumlichen und historischen Kontexten gerecht zu werden.

Als Quellen dienen alle greifbaren Texte – veröffentlichte wie unveröffentlichte – von organisierten wie nicht-organisierten Frauenbewegten. Dazu gehören beispielsweise Deklarationen, Autobiographien, Reden, Denkschriften, Analysen, Forderungskataloge sowie Äusserungen an informellen Treffen. Insgesamt ist der Anspruch an die Materialbasis nicht Vollständigkeit oder Repräsentativität, sondern Vielfältigkeit. Ziel ist eine breite und diverse Materialbasis zu erarbeiten und vielfältige Perspektiven auf Zukunft einzubeziehen.

Das Dissertationsprojekt nimmt eine globale und vergleichende Perspektive ein, die in der bisherigen historischen Aufarbeitung fehlt. Ein Grossteil der bisherigen Forschung zu Frauenbewegungen verharrte in einem nationalen Rahmen und konzentrierte sich in vielen Fällen auf westeuropäische und nordamerikanische Akteur*innen, während Organisationen und Aktivist*innen aus sozialistischen, osteuropäischen Ländern sowie aus wenig industrialisierten Ländern des sogenannten «Globalen Südens» tendenziell vernachlässigt wurden. Daher setzt sich das Projekt zum Ziel unterschiedliche Akteur*innen aus unterschiedlichen Regionen, unterschiedlichen sozio-ökonomischen Kontexten sowie unterschiedlichen politischen Strömungen zu untersuchen und damit letztendlich gängige (westeuropäische) Erzählungen neu zu verorten. Insgesamt zielt die Dissertation zum einen darauf ab, einen Beitrag zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der inter- und transnationalen Frauenbewegungen zu leisten. Zum anderen strebt die Dissertation vertiefte Einsichten in eine Geschlechtergeschichte der Zukunft an.

Supervision

Prof. Dr. Christian Gerlach (Universität Bern)

Disziplin

Geschichte