Postkoloniale Poetiken der Gegenwartsliteratur

Projektleitung

Rahel Kleger

Abstract

Am Beispiel von vier Romanen will das Projekt exemplarisch aufzeigen, wie Texte der unmittelbaren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur rassistische Ausgrenzungserfahrungen verarbeiten. Ziel ist es, die ästhetischen Verfahren der untersuchten Texte zur Darstellung von ‚whiteness‘ und ‚non-whiteness‘, von Diskriminierung und Privilegierung sichtbar zu machen und herauszuarbeiten, welchen Stellenwert sogenannte postmigrantische Praktiken in den darin vorkommenden Schilderungen von ‚ethnischen‘ Zugehörigkeiten haben. Dazu werden Shida Bazyars Drei Kameradinnen (2021), Martin R. Deans Meine Väter (20232), Sharon Dodua Otoos Adas Raum (2021) und Mithu Sanyals Identitti (2021) analysiert.

Natürlich sind die vier zu untersuchenden Romane weder isoliert entstanden, noch sollen sie im Rahmen dieses Projekts isoliert analysiert werden. Im Sinne der Intertextualitätstheorie berücksichtigt das Projekt auch weitere (nicht) literarische Texte in der Untersuchung mit. Die Romane selbst legen dieses Vorgehen nahe: Bereits der Titel von Drei Kameradinnen von Bazyar spielt auf Drei Kameraden (1936) von Erich Maria Remarque an. Deans Neuauflage seines 2003 erstmals publizierten Romans Meine Väter hingegen muss vor dem Hintergrund des Textes Der Sommer, in dem ich schwarz wurde (2021) eingeordnet werden, eines gemeinsamen Projekts mit Angélique Beldner im Zuge der Black Lives Matter-Proteste, das Dean im Vorwort der Neuausgabe des Väterromans explizit erwähnt. Adas Raum von Otoo wiederum ruft Assoziationen mit Bernardine Evaristos Girl, Woman, Other (2019) hervor: einerseits aufgrund der Thematik der Diskriminierungsrealitäten, andererseits aufgrund der Struktur des Textes, die sich durch mehrere nebeneinanderstehende und gleichzeitig verbundene Handlungsstränge auszeichnet. In Sanyals Identitti schliesslich sind neben einer Literaturliste, die nicht nur Klassiker der postkolonialen Theorie, sondern auch literarische Werke aufführt (z. B. von Zadie Smith und Maya Angelou), weitere intertextuelle Bezüge in den zahlreichen Social Media Beiträgen innerhalb des Romans zu finden. Die meisten davon stammen von realen „Spender*innen“, die die Posts auf Sanyals Anfrage hin verfasst haben – u. a. von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, den Herausgeber:innen der Essaysammlung Eure Heimat ist unser Alptraum (2019), in der sich 14 Autor:innen zu Rassismus äussern.

Methodisch verbindet die Studie erzähltheoretische und intertextuelle Methoden mit solchen der Postcolonial Studies: Einerseits folgt das Projekt den Critical Whiteness Studies, die – in Ausdifferenzierung postkolonialer Analysen von ‚race‘ – ‚non-whiteness‘ nicht losgelöst von ‚whiteness‘ untersuchen (vgl. Morrison 1992). Andererseits ist es den relativ jungen postmigrantischen Studien verpflichtet, die ihrerseits in Relation zu den etablierten Postcolonial Studies stehen. Ihnen entnehmen die postmigrantischen Studien die methodischen und theoretischen Grundlagen ihrer Kritik an einem essenzialistischen Verständnis von Identität, Raum und Kultur (vgl. Alkin/Geuer 2022). In Anlehnung an sozialwissenschaftliche Studien haben in den letzten Jahren erste Untersuchungen zu einer „postmigrantische Perspektive“ am Rand Einzug in die germanistische Literaturwissenschaft gehalten (vgl. Thiemann 2019, Schmidt/Thiemann 2022, Cramer et al. 2023).

Durch das interdisziplinäre Vorgehen soll das Projekt erstens postkoloniale Analysewerkzeuge in der germanistischen Literaturwissenschaft weiter systematisch etablieren und zweitens auf den bis anhin von der Forschung noch wenig beachteten Zusammenhang der Repräsentation von Rassismus und Postmigration aufmerksam machen.

Supervision

Prof. Dr. Melanie Rohner (Universität Bern) & Prof. Dr. Priscilla Layne (University of North Carolina at Chapel Hill)

Disziplin

Germanistik